Ukraine: Die Lage ist viel komplizierter!

Für den ersten Artikel habe ich einige Fragen im Interview beantwortet.

Sie sind bereits nach Rostow/Russland umgezogen bevor die Invasion begann. Haben Sie auch mal daran gedacht, nach Deutschland zu gehen und dort um Asyl zu bitten?

Wir sind erst am Ende des Sommers 2023 endgültig umgezogen. Wir hatten uns dafür einen Plan aufgestellt, um den Umzug schrittweise ab 2020 realisieren zu können. Rostow hatten wir schon lange vor den Kriegshandlungen im Jahr 2014 besucht, meistens wegen der Arbeit oder auf der Durchreise. Die Stadt gefällt mir und ich sehe bestimmte Vorteile für die Ausbildung unserer Tochter. Sie hat letztes Jahr an der Universität Rostow angefangen. In Lugansk waren die Möglichkeiten leider nicht so gut denn Bildungssystem ist dort nicht besonders. Das hat sich auch nicht geändert, als Lugansk zur unabhängigen Volksrepublik erklärt wurde. Neben diesen Vorteilen der besseren Ausbildungschancen für die jungen Leute gibt es in Rostow eine relative Sicherheit. Unser Kind hat die Schule in Lugansk beendet, und während der Prüfungen am 8. Juni 2023 erreichten ukrainische Raketen die Stadt. Es ist ziemlich unangenehm, ein Examen beim Klang von Kanonendonner zu schreiben

Über die Möglichkeit, nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land zu ziehen, haben wir nachgedacht. Man kann sagen, dass wir seit 2014 nahe davor waren. Aber es gibt einige Punkte, die ich für mich selbst nicht klären konnte. Erstens geht es um meine Eltern und die Angehörigen meiner Frau, die ich nicht zurücklassen kann. Zweitens geht es um die Arbeitsmöglichkeit. Ich habe immer versucht (und es gelingt mir bisher) der Gesellschaft, in der ich lebe, von Nutzen zu sein und nicht von Sozialleistungen abhängig zu sein und auf Kosten dieser Gesellschaft zu leben. Soweit ich weiß – hätte mir Asyl im Jahr 2014 den Aufenthalt erlaubt, aber nicht das Recht auf Arbeit gegeben. Das heißt, meine Frau, mein Kind und ich hätten Geld vom Staat bekommen, das jemand anderes verdient hat? Für mein Wertesystem ist das nicht akzeptabel. Dabei habe ich sogar mehrere berufliche Qualifikationen: Designer, Programmierer, Drucker und ich kann ein wenig mit Maschinen und CNC-Steuerungen arbeiten (als Hobby). Meine Fähigkeiten sind also gefragt, das kann die Person bestätigen, die mich mit dem Herausgeber dieser Plattform bekannt gemacht hat. Ein weiteres Problem ist die Verkehrssprache. Ich spreche fast kein Deutsch, aber dafür Englisch.

Sie haben die Staatsbürgerschaft beider Länder, die Krieg gegeneinander führen. Was ist der Unterschied zwischen Ukrainern und Russen? Fühlen Sie sich mehr als Russe oder Ukrainer?

Um diese Frage zu verstehen, muss man in die Geschichte meiner Heimat und meiner Familie eintauchen. Meine Vorfahren kamen vor über 100 Jahren in den Donbass, noch zu Zeiten des Russischen Kaiserreichs, um in einer Kohlegrube zu arbeiten. Zu jener Zeit gehörte dieses Gebiet bereits lange zum Russischen Kaiserreich (es wurde vom Krim-Khanat unter Peter dem Großen erobert). Das Gebiet war spärlich von nomadischen Völkern besiedelt, die allmählich das Land in Besitz nahmen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier einen explosiven industriellen Aufschwung (im Kohle- und Metallurgiesektor), deshalb kamen damals auch meine Vorfahren hierher. Die Vorfahren meiner Frau haben bereits seit mehreren Jahrhunderten hier gelebt. Ich wurde in der UdSSR geboren, und durch einen Zufall der Geschichte wurde ein Teil dieses großen Landes dann als Ukraine deklariert. Alle Bewohner bekamen ukrainische Pässe. Den russischen Pass habe ich (wie die meisten Einwohner der LNR) Anfang des Jahres 2020 erhalten. Wer ich bin – ich fühle mich wahrscheinlich mehr als Russe, ja das trifft es ziemlich genau.

Ihre Verwandten in der Ukraine sind in Gefahr, weil Sie in Kontakt mit ihnen stehen? Ist es für Sie problematisch, Verwandte in der Ukraine zu besuchen?

Meine Verwandten leben jetzt in zwei großen Städten – in Charkiw und Dnipro. Dort leben meine Schwester und mein Bruder. Meine Schwester und ihre Familie in Charkiw sind wegen Raketenangriffen in Gefahr (sie lebt im Stadtzentrum). Ich habe ihr Hilfe angeboten (ich habe gute Bekannte in der Europäischen Union) – nach Deutschland umzuziehen, aber sie hat abgelehnt. Ihr Mann kann das Land nicht verlassen und sie möchte sich nicht von ihm trennen (es wurde eine Mobilmachung angekündigt und Männer werden nicht mehr aus dem Land gelassen). Ihren ersten Ehemann, den Vater meiner Nichte, haben sie bereits zum Militär eingezogen.

Was meinen Bruder betrifft – er lebt mit seiner Familie in Dnipro und kann aus denselben Gründen nicht weg – Mobilmachung. Er hat nicht wirklich den Wunsch, für das Regime von Selenskyj zu kämpfen. Aber das Land möchte ihn auch nicht gehen lassen. Es gibt Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen – man konnte gegen Zahlungen illegal ausreisen, die Summen lagen anfangs bei 5000 Dollar, jetzt sind sie höher. Die Leute griffen zu verschiedenen Tricks: Sie fuhren in Kofferräumen von Autos über die Grenze, gingen durch die Berge in Rumänien, schwammen über Flüsse nach Moldawien, so wie mein Schulkamerad, der sich ein gefälschtes ärztliches Attest über eine Behinderung kaufte. Jedes solcher Manöver kostet Geld, viel Geld. Und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass reiche Menschen nicht zur Armee eingezogen werden, gibt es für das einfache Volk genau zwei Möglichkeiten – zu fliehen oder sich zu verstecken. So ergibt sich die kuriose Situation – das Land Ukraine möchte meinen Bruder mit einem ukrainischen Pass (russisch wie ich) gegen Russland kämpfen lassen. Ich bin für das Land Ukraine schon nicht mehr interessant, da ich weder für sie kämpfen wollte noch will. Meine Verwandten sehen? Das träume ich schon seit mehr als 9 Jahren!

Sie haben viele Freunde und Verwandte verloren. Waren Sie selbst Zeuge von Einschlägen und Angriffen? Haben Sie ernsthafte Verletzungen und Todesfälle gesehen?

Von den Verwandten haben wir die Großmutter verloren. Ja, sie war alt, krank, aber ihren einzigen Wunsch konnten wir ihr nicht erfüllen – sie wollte neben ihrem Mann begraben werden. Sie starb im August 2014, damals war es sehr gefährlich, den Leichnam nach Lugansk zu bringen – die Stadt war von ukrainischen Truppen umzingelt und wurde ständig beschossen. Der Grabstein meines Großvaters war durch einen Splittertreffer gefallen. Wir konnten ihn im Jahr 2015 wiederherstellen. Freunde starben, ja. Zum Beispiel der Patenonkel unserer Tochter, Lehrer von Beruf – er meldete sich selbst beim Rekrutierungsbüro. Ein Jahr lang kämpfte er und starb bei einem Angriff auf ukrainische Positionen. Mein Freund hatte, nebenbei bemerkt, einen echten ukrainischen Nachnamen… Todesfälle und Verletzungen habe ich persönlich nicht gesehen, nur die Folgen von Beschüssen, Zerstörungen, verbrannte Technik.

Sie sagen, dass Sie auch über die wahren Umstände sprechen möchten, die zum Krieg geführt haben. Natürlich lässt sich das alles nicht in einem Artikel zusammenfassen, aber können Sie einige kurze Beispiele geben, die aus Ihrer Sicht wichtig sind, um den Konflikt zu verstehen?

Das wichtigste Beispiel meiner Meinung nach ist, dass dieser Krieg: A) in seinen Ursprüngen ein Bürgerkrieg ist – zu Beginn kämpften beide Seiten mit denselben Pässen, ukrainischen! Und das geht auch jetzt noch so weiter. B) wurde der Krieg seit Anfang der 2000er Jahre vorbereitet. Meine Heimat wurde von führenden Politikern durch abfällige Äußerungen entmenschlicht. Wir seien “Untermenschen”, die man „mit Stacheldraht einzäunen” oder auf die man “eine Atombombe abwerfen” solle. (Alle diese Aussagen sind verfügbar und leicht überprüfbar). Mit dieser Hetze projizierten die Politiker die schlechten wirtschaftlichen Aussichten – die Ukraine ist ein armes Land – auf lebendige Gesichter, um Wählerstimmen zu sammeln: ““Es ist alles wegen der Leute aus Donezk, sie haben alles gestohlen”.

Es begann alles schon Anfang März 2014. Als Russland die Krim übernahm, fing die ukrainische Armee aus irgendeinem Grund an sich nicht wie erwartet in Richtung Krim zu konzentrieren, sondern bei uns. Es kamen Züge mit Ausrüstung, die Leute versuchten, das Entladen zu verhindern, ich habe es selbst gesehen! Und das alles geschah, als es in Lugansk noch nicht einmal Proteste gab. Ein Referendum war noch gar nicht angesetzt. Zu uns wurden die aktivsten Maidan-Teilnehmer geschickt, die in Kiew der Machtteilung im Wege standen. Man hat die Lage geschickt ausgenutzt, um Stimmung gegen uns zu machen.

Im Februar 2022 gab es beidseitig Vorbereitungen zum Krieg. Selenskyj weigerte sich erneut, die Minsker Abkommen zu erfüllen. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in Lugansk bei meiner Schwiegermutter. Der Artilleriebeschuss hatte sich verstärkt. Russland hat als Erstes zugeschlagen, wenn es nicht zugeschlagen hätte – mein Stadt würde jetzt wahrscheinlich wie Bachmut aussehen. Das ist nur die kurze Version der Geschichte über die Hintergründe. Mehr davon folgt in weiteren Artikeln.

Kommentare

2 Antworten zu „Ukraine: Die Lage ist viel komplizierter!“

Entdecke mehr von freie deutsche Presse

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen